Ein Projekt des Comites Dortmund, in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein von Female Empowerment, “Donne all‘ Ultimo Grido – The Powerful Voice of Women” und unterstützt vom italienischen Auswärtigen Amt.
Das Buch „Ein Schrei wird uns retten“ entstand aus dem Wunsch heraus, Frauen und ihre Geschichten in diesem Pandemiejahr zu erzählen, weil Frauen die Hauptlast der Krise tragen. Haushalt, Home-Schooling oder andere familiäre Verpflichtungen: Sie leisten den ganz überwiegenden Teil der Care-Arbeit in den Familien.
Zehn in Deutschland lebende Italienerinnen teilen ihre Erfahrungen mit uns. Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Berufe, Interessen und Familienkonstellationen erzählen uns, wie sie dem Notfall Lockdown begegnet sind, welche Ressourcen sie gefunden oder wiederentdeckt haben, um gestärkt daraus hervor zu gehen. Wie sie es geschafft haben, sich dank ihrer Stimme besser zu fühlen, indem sie sie auf wirksame Weise erhoben und, wenn nötig, schrien. Warum der Schrei? Weil er gleichzeitig eine beschwörende wie aufbauende, und dazu eine spielerisch therapeutische Wirkung hat, sei es für diejenigen die ihn umsetzen oder für die Öffentlichkeit. Eine weibliche, gemeinschaftliche Erzählung, die ihren Gipfel findet in einem schöpferischen “Schrei”. Ein Puzzle aus Geschichten von besonderen Frauen in ihrem außergewöhnlichen Alltag.
Mit dieser Veröffentlichung einer Momentaufnahme, ermöglicht durch finanzielle Unterstützung des italienischen Auswärtigen Amts, möchte das Komitee der Italiener im Ausland, Comites Dortmund, der Tendenz entgegenwirken, in der sich geschlechtsspezifische Unterschiede gesellschaftlich verschärfen. Die Gleichstellung von Frauen und Männern vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie wird unter die Lupe genommen, wie entwickeln sich aktuell die Phänomene Gender Pay Gap, Gender Time Gap und Gender Care Gap.
Wir sind davon überzeugt, dass diese historisch bedeutsame Phase die Aufmerksamkeit auf ein sensibles Thema menschlicher Existenz gelenkt hat: Nachhaltigkeit in all ihren konkreten Formen, nicht nur ökologisch, sondern auch sozial und kulturell. Unteilbar und notwendig.
Jede teilnehmende Frau stiftete einen wichtigen Beitrag, nicht nur diejenigen, die von sich selbst erzählten, sondern auch die Schöpferinnen, Autorinnen von Texten und Porträts, ein ganzes weibliches Team, welches zusammen arbeitete mit dem Ziel, eine wertvolle Sammlung menschlicher Befindlichkeiten zu erschaffen. Die Porträts der interviewten Frauen stammen von den Illustratoren des weiblichen Kollektivs Lediesis, das wegen seiner originellen Street-Art-Interventionen in Italien viel Beachtung findet.
Wir wollten zudem eine Psychologin an unserer Seite haben, die uns umfassend und sachkundig den Weg aufzeigt auf dem wir uns gerade befinden und wohin wir gehen können oder wollen. Daher befindet sich im Anhang des Buches ein Heft von Dr. Erica Villafranca zur Situation von Frauen in der Pandemie, in Italien, in Deutschland und weltweit.
Darüber hinaus können Leser:innen über einen QR-Code auf Audiodateien der befragten Frauen zugreifen und ihre Stimmen hören. Denn jede Geschichte entspricht der Stimme ihrer Erzählerin, die jeweils eine Art Mantra rezitiert, einen Satz, mit dem sie sich identifiziert.
Wir hoffen, dass dieses Buch Frauen ein hilfreiches Werkzeug sein wird, sich zu motivieren und dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Das ihnen verständlich macht, wie wichtig es ist, die eigene Stimme zu entdecken und zu erfahren, wie man sie in einen mächtigen SCHREI verwandelt, der weit zu hören ist, aber vor allem Aufmerksamkeit erzeugt.
Das Buch, auf Italienisch, wird kostenlos versendet, wenn Sie es schriftlich anfordern bei info@comites-dortmund.de
Wir möchten das Buch allen Frauen widmen: Frauen, die wissen, dass sie eine Stimme haben und sie benutzen, und denen, die sie gerade entdeckt haben, oder die sie verloren und wieder gefunden haben. Denjenigen, die sie noch nicht erhoben haben, es aber früher oder später tun werden. Und allen Stimmen, die nicht allein die Kraft haben, sich Gehör zu verschaffen, aber da sind und wissen, dass sie zusammen immer etwas bewirken können.
Aus dem Buch lesen Sie die Erzählung von Desirèe Lo Castro.
Heute Abend mache ich mich schön.
Oje, mein Gesicht, denkt Desirèe. Sie schaut in den Spiegel und berührt ihre Augenlider. Na klar, wenn du die ganze Nacht mit Weinen verbracht hast und aufs Handy schauen, ob er dir geantwortet hat, kein Wunder, dass du so geschwollene Augen hast und kaum vorzeigbar bist. Aber was soll’s, es wird dich eh niemand sehen. Wir sind alle verdammt nochmal zuhause eingesperrt. Im Gedanken wirft sie einen Blick auf das Handy, vielleicht gibt es eine Nachricht. Nichts. Sich während des Lockdowns mit dem Freund zu streiten ist nicht die beste Idee. Seit mehr als einem Monat haben sie sich nicht gesehen, außer auf dem Bildschirm. Die Innigkeit, die sie miteinander hatten, ist verflogen. Mit zwanzig ist das so. Vor allen wenn man wie Desirèe ein ängstlicher Mensch ist und Antworten verlangt, wo keine Antworten sind. Oder besser gesagt, die einzige Antwort auf alle Fragen darin besteht, ruhig bleiben zu müssen. Ja, die Ruhe. Vor der Pandemie war sie ihre Begleiterin. Ausgehen mit Freunden oder lieber eine TV-Serie gucken, da siegte die Couch. Bei der Wahl zwischen Tanzen gehen oder ein Bier in der Kneipe, gewann Keisa, ihre beste Freundin, die niemals müde wird ihr zuzuhören. Und mehr als je zuvor ist es für Desirèe wirklich wichtig, dass man ihr zuhört.
„Hallo Desy, wie geht‘s dir heute? Lass‘ mal was von dir hören.“ Das Geräusch der Nachricht lässt sie hochschrecken, noch bevor sie sie gelesen hat. Das könnte ER sein. Sehnsucht und Angst. Es wäre besser, er ist es nicht. Selbst dann, wenn die Nachricht bedeuten würde, er könne nicht ohne mich sein. Aber wie soll ich über unser letztes Gespräch, all die Dinge die gesagt wurden, hinwegkommen? Auch wenn er mich vermisst, muss ich doch lernen allein zu sein. Und wenn er gar nicht mehr anrufen würde? Menno! Als wir uns treffen konnten, endeten die Diskussionen natürlich nicht so. Wenn es lauter wurde oder man wegen irgendeiner Unstimmigkeit nur die Augenbraue hob, genügte eine Geste, die Hand auf die Schulter legen oder eine Umarmung, und alles verschwand in einem Sog aus Herzen und Atmen. Die räumliche Distanz dagegen bringt keinen Frieden. Im Gegenteil, sie entfacht und zerstört, als wäre sie ein Brandbeschleuniger. Als ob das nicht schon genug wäre, gibt es dazu den Fernunterricht, der taugt nicht als Überdruckventil. Eine Zeit lang ist man online zusammen, nimmt am Unterricht teil, verabschiedet sich. Aber die Schule ist alles andere als das. Der Plausch bevor die Glocke läutet, das Geschwätz über einen Mitschüler oder den Lehrer, das Gelächter über jemanden der gestolpert ist, was auch den Besten mal passiert, oder einfach mal fragen, wie man sich wohl für die Party kleidet. Kurz gesagt, Schule ist eben viel mehr als eine Mathe- oder Biologiestunde. Wie sehr Desirèe vermisst, sich nicht wenigstens ein bisschen von sich selbst ablenken zu können.
Bevor sie nachschauen geht wer ihr geschrieben hat, ein paar Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, ein letzter trotziger Blick auf ihr Spiegelbild, was sie zu bitten scheint, besser auf sich aufzupassen, und dann ein Sprung aufs Bett um das Handy zu greifen. Es ist Keisa. Eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung, immerhin hätte ER es sein können. „Wie geht’s?“ Gute Frage. Wer weiß das schon. Sie fühlt sich wie viele andere Jugendliche in ihrem Alter, abgeschottet zuhause, wo ihnen die Freiheit fehlt. Sie fühlt sich wie eine, die sich seit Tagen nicht mehr umgezogen hat, nur das T-Shirt wechselt, weil das schon ausreicht für das Wenige an sozialer Nähe und Gemeinschaft. Sie fühlt sich wie eine, die eine Beziehung hatte und nun ist es vorbei, vielleicht, wer weiß. Sie fühlt sich wie all die anderen, deren erster Gedanke beim Verlassen der Wohnung nicht mehr ist, hab ich die Schlüssel, die Geldbörse, sondern, habe ich die Maske eingesteckt? Sie fühlt sich wie eine junge Frau, die nie besonderen Wert aufs Feiern gelegt hat, aber jetzt wünscht, sie könne ein Fest veranstalten, eines wo bis spät in die Nacht getrunken, getanzt und gelacht wird. So fühlt sie sich. Und sie ist nicht die Einzige. Manchmal spricht sie mit Keisa darüber. Nur ein kurzes Gespräch, denn es ist so schmerzlich, sich daran zu erinnern und gleichzeitig nichts ändern zu können, so dass es besser ist, nicht darüber zu reden. Wie deprimierend, wenn von dir mit zwanzig Jahren verlangt wird, das Einzige was du machen sollst, ist, nichts zu machen. Stehen bleiben. Bis zu dem Zeitpunkt an dem es Desirèe von außen auferlegt wurde, war es nicht einmal schlimm. Erst jetzt haben sich die Dinge geändert. Eine andere Wahl gibt es nicht, einzig diese enorm langweilige Wiederholung des Tagesablaufs. Sie will dem Lockdown auch etwas Gutes abgewinnen, er hat ihr ein gesünderes Leben beschert. Sie hat begonnen täglich Fahrrad zu fahren, den Fluss entlang. Wenigstens ist das noch nicht verboten. In Deutschland. Erst gestern erfuhr sie von einer ihrer italienischen Freundinnen, dass es in Italien nicht möglich ist, ohne eine offizielle Erlaubnis unterwegs zu sein. Von daher genießt sie also ein Privileg. Heute Morgen ist sie nachdenklicher als gewöhnlich. Sie spürt, der Moment ist gekommen, einen Plan zu haben, sich aufzufangen. Auch wenn es angesichts der Situation nicht angebracht ist, Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Eines jedoch ist sicher: Zuhause bleiben reicht ihr nicht mehr.
Wenn alles wieder geöffnet ist will sie reisen, das ist zu kurz gekommen. Mädels in ihrem Alter müssen erkunden, in Bewegung sein, vielleicht auch hinfallen, aber dann wieder aufstehen und weiter machen. Merkwürdig, was stets der Plan ihrer Altersgenossen war, scheint jetzt sie ergriffen zu haben. Ist es an der Zeit, sich auf sein Alter zu besinnen und wirklich in die Ferne zu reisen? Desirèe scheint sich dessen bewusst zu werden. Sie erhebt sich vom Bett und geht zum Schrank, während sie beide Türen öffnet, wendet sie sich an ihn wie an einen Freund, den sie lange nicht besucht hat: „Später müssen wir reden, du und ich.“ Noch ist alles wie erstarrt, ja, aber man kann jederzeit eine Generalprobe machen. Sie ist aufgewühlt, so wie damals, eben erst angekommen als Ausländerin in der neuen Schule, mit ihrem noch unsicheren Deutsch, und die Lehrerin stellte eine Frage zu Galileo Galilei, die niemand zu beantworten wusste. Ich weiß es, ich weiß es. Es wiederholte sich im Kopf. Die Grammatik ist immer noch nicht die Beste, aber ich riskiere es. Also Desy, jetzt oder nie. Und sie wagt es. Hier, jetzt, oder nie – ist heute dasselbe Leitmotiv. Es wird ein wenig schwierig werden, da sie noch nicht viel Erfahrung hat, dem Leben eine Richtung zu geben. Jedoch ihr Alter von zwanzig fordert das. Angespornt von Keisas Nachricht „Wie geht’s?“ keimt in ihr die Lust auf, sich wieder aufzubauen. Als sie mit vor Langeweile und verweigerter Freiheit geschwollenen Augen ihr Spiegelbild betrachtet, wird ihr klar, Blumen erblühen schließlich auch nach dem Regen, und vor allem dank des Regens.
„Ciao Keisa. Mir geht es gut und heute Abend mache ich mich schön.“ Also Mittagessen mit einem Lächeln. Nachmittags Rad fahren und zum Abendessen die Verwandlung. Weg mit dem weißen T-Shirt, weg mit den Leggings, weg mit diesem Gesicht einer Überlebenden. Frische Kleider, sauber geputzte Schuhe. Geglättetes Haar, Lidschatten und Lippenstift. „Wohin gehst du, Desy?“ fragt ihre Mutter ungläubig, als sie sie so gekleidet und geschminkt sieht. „Heute Abend noch einmal aufs Sofa, morgen, wer weiß.“